„Noch wach“ von Benjamin von Stuckrad-Barre
„Noch wach“ von Benjamin von Stuckrad-Barre hat mich schon auf den ersten Seiten abgeholt und überrascht. Ja, er kann es einfach – so sagen die Fans und auch wenn ich nie Fan von irgendwem oder was sein werde – es stimmt. Dies ist ein brillantes und geistreiches Buch. Grandios geschrieben, weil von Stuckrad-Barre eine eigene Sprache für diesen Text kreiert und es gleichzeitig reflektiert. Die großgeschriebenen Wörter, die mich sofort an diesen Duktus von Männergesprächen erinnert haben. Dieses: Ich betone es hier noch mal – als müsste man/oder frau jetzt einen Stift zücken und es gleich notieren.
Also – ich bin begeistert. Und ich bin eine Frau. Mir fehlen hier keine Frauen, weil es um den Boys-Club geht. Überhaupt, was für ein merkwürdiger Anspruch an Literatur, dass sie Quoten einhalten sollte. Stuckrad-Barre macht Kunst. Und er spricht über Macht. Macht – ist bekanntlich genderlos, kann von Frauen und Männern und binären Personen ausgeübt werden und – wird.
Eine schöne Vorführung von Macht gab es letztens im literarischen Quartett. Wo Autorin Julie Zeh (und seit wann sitzen Autor.innen denn in dieser Gesprächsrunde? Also Konkurrentinnen andere Autor:innen? Oh, richtig, schon länger … ich sehe nicht viel fern) erst einmal klar macht, welche Macht sie jetzt über den Autor von Stuckrad-Barre hat. Sie erzählt es wie eine nette Geschichte. Und ich übersetze mal: Also da lag das Manuskript ( heißt: Frau Zeh ist so wichtig, dass man ihr kein Buch, nein, ein Manuskript des ansonsten Top-Secret-Stoffes vorab zuschickt und sie lesen lässt) auf dem Küchentisch (heißt: das ist ihr aber ziemlich egal, wie geheim das sein soll und wo es rumliegt auch. Also Küchentisch.) und dann schaut der 11 jährige Sohn (männlich) von Julie Zeh (weiblich) auf das Manuskript und sagt: „He? Ist das ein Kinderbuch?“ Wow. Und sieh mal an, ein 11 jähriger (Mann) reicht, um den erwachsenen von Stuckrad-Barre zu vernichten. Gut, wenn eine Frau immer einen Mann im Hinterhalt hat, um den anderen Mann zu vernichten, dann kommt sie nicht so aggressiv rüber. Kinderbuch! Genau. Und sie lacht so beiläufig und redet weiter.
Mich erinnert das an Menschen, mit denen man in Kunstausstellungen geht und die dann (auch mal gerne vor Picasso) sagen: Also, das könnte mein 5-jähriger besser.
Kunst – für alle, die Kunst verstehen
Kunst hat es so an sich, dass sie nicht erklärt, nicht sich und auch nichts anderes. Die Künstler:in auch nicht. Kunst ist die Schöpfung der Künstler:in und ja, das kann auch eine Schriftsteller:in sein, obwohl wir das in der Zeit von irritierenden Bestsellerlisten gerne vergessen. Daher bin ich auch in Teilen überhaupt nicht einverstanden mit dem gut gemeinsten Blurb des KiWi-Verlages.
„Noch wach?“ ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen. (KiWi Verlag)
Sittengemälde – gibt es in der Genremalerei. Und sie hier zu zitieren ist – unpassend. Sittengemälde wollen tatsächlich die Sitten der Betrachter:innen heben, verbessern, sie mahnen und erinnern. Das will von Stuckrad-Barre nicht. Dafür ist er zu schlau. Das man das so deuten kann, wenn er für Frauen das Wort ergreift und den Boys-Club auffliegen lässt – kann ich verstehen, aber so lässt sich das Buch dann eben auch leicht aburteilen. So macht man das nicht. Das hätte man dann schon anders machen müssen. Nee, eben nicht. Weil Kunst – macht was sie macht. Und es ist das Gute und Schöne an der Kunst, dass sie sich keinem Zweck unterstellt. Sich (wenn sie gut ist) nicht instrumentalisieren lässt.
Sprache
Bei der Sprache geht es – mir – vor allem um den Sound. Das Tempo, den Sog den sie entwickelt. Anglizismen stören mich nicht. Anglizismen stören einige Menschen, aber die sagen auch nicht Datenverarbeitunsgerät zu ihrem Computer. Wir leben in einer globalen Welt, wir mixen Sprachen und wer hat da Angst vor Einwanderung von fremden Vokabeln? Die könnten die deutsche Sprache – verunreinigen? Ich sage also: von Stuckrad-Barre wählt eine globale Sprache und gleichzeitig eine Sprache die im Boys-Club gesprochen. wird. Logisch irgendwie, oder? Ich erinnert mich an einen Produzenten, der immer „am Ende des Tages“ sagte. Auf deutsch, aber eben eindeutig aus dem Amerikanischen übertragen.
Viele Phänomen finden wir überall. #metoo zum Beispiel. Und wenn eine Handlung sich zwischen Deutschland und Los Angeles abspielt, dann will ich das auch fühlen können. Brillant.
Autor
Ziemlich irritierend, dass bei von Stuckrad-Barre irgendwann immer das Wort „drogenabhänig“ fällt. Anders als andere – hat er darüber ausführlich gesprochen/geschrieben. So etwas nun plump gegen einen Menschen zu verwenden – nicht gut. So muss man dann auch nicht darüber reden, dass er sich da erstaunlich gut von erholt hat. Und einen moralischen Kompass hat, der für die meisten Menschen (und ganz besonders Drogenabhängige) schon längst verloren gegangen ist.
Handlung
Dinge, die passiert sind, schieben wir gerne in die Vergangenheit. Das klappt nur leider nicht gut mit Dingen, die uns traumatisierten. Und an unsere eigene Schwäche erinnern. Die klopfen penetrant wieder an. Gras drüber wachsen lassen – wollen immer nur die Täter, nie die Opfer. Da ist doch schon alles gesagt – trumpft die Autorin im Literarischen Quartett wieder auf. Als ob es hier um einen Zeitungsartikel oder eine Dokumentation ginge. Ja, es gibt Dinge, die kann man sehr leicht mit dem Erzählten im Buch in Zusammenhang zusammenbringen (wer wenig fern sieht und Zeitung liest, hat es hier schwerer). Also hier zu lesen. Oder hier zu sehen. Oder hier. Eigentlich überall. Aber niemand erzählt uns, wie sich das anfühlt. Wir glitschig es überall ist und wie wir uns ständig in der ein oder anderen Rolle wiederfinden und fragen müssen: Hätte ich hier was gesagt? Widersprochen? Stopp! gerufen? Eher nicht, oder?
Was ich damit aber nicht sagen will: Hier wird niemanden ein Spiegel vorgehalten. Weil das wieder eine bestimmte Intention voraussetzen würde. Und um nicht vollständig ausgelacht zu werden, sagt dann der Autor auch nicht: Schreiben hilft gegen den Schmerz meines Schweigens, meiner Passivität. Aber das kann ich ziemlich leicht herauslesen. Das tut allgemein gut, dass jemand darüber spricht, der es nicht von aussen betrachtet, sondern komplett in die Sache verwickelt war.
Fazit
Kein Buch für Otto Normalverbraucher.
Was mir an den Reaktionen auf dieses Buch intensiv klargeworden ist: Ich freue mich auf den Tag, an dem die Machtspiele – von Frauen und Männern – aufhören. Und je mehr Menschen darüber reden und schreiben, vielfältig und subjektiv – desto besser.
„Noch wach“ von Benjamin von Stuckrad-Barre
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch eBook
- Erscheinungstermin: 22.04.2023
- 384 Seiten
- ISBN: 978-3-462-31145-7
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