„Das Jahr der Wunder“ von Louise Erdrich
Ich habe mich sehr auf „Das Jahr der Wunder“ von Louise Erdrich gefreut. In den 90er Jahren habe ich die Autorin mit ihrem Buch „Die Rübenkönigin“ entdeckt und dieses Buch sofort geliebt. Keine Ahnung, wie ein ReRead verlaufen würde, aber seitdem habe ich mir die Autorin gemerkt und auch, wenn ich in den folgenden Jahren wenig zum Lesen gekommen bin, blieb es einer meiner Geheimtipps. Was mich besonders und auch wieder an „Das Jahr der Wunder“ fasziniert, ist wie mühelos Erdrich das (heutige) Leben der American Natives in ihrem Büchern beschreibt. Man erfährt viel nebenher, in die Geschichte eingewoben, von Ungerechtigkeit, Landnahme, von Sitten und Bräuchen, die auch heute noch gelten, von den Lebensumständen der American Natives. Und von ihrem Leid, den Alkohol- und Identitätsproblemen.
In „Das Jahr der Wunder“ steht nun ein Buchladen im Mittelpunkt der Handlung. Louise Erdrich hat einen eigenen Buchladen (Birchbark Books) und wenn im Buch von Louise die Rede ist, kann man wohl davon ausgehen, dass sie sich selbst in das Buch mit eingewoben hat. Eigenes Erleben und Fiktion fließen ineinander. Und diesmal geht es auch um Magie, die Geisterwelt.
„Die Trennung zwischen ’native writers‘ und ‚American writers‘ finde ich akademisch. Das tut man nur, um ein Kursprogramm auf die Beine zu stellen. Ich bin eine Mischung und nur deshalb verfüge ich über diese künstlerische Wahrhaftigkeit und Prägnanz, all die verschiedenen Charaktere darzustellen. Ich fühle mich nicht verpflichtet, auf eine bestimmte Art zu schreiben. “– Louise Erdrich The creative instinct. Being the mother of five children has deepened her art, says the author of “Love Medicine” and the new “Tales of Burning Love”: [Quelle]
Das Jahr des Aufwachens
Die Covid Pandemie und die Black-Lives-Matter-Bewegung weisen uns auf Missstände hin, die Erdrich schon lange thematisiert. Als Race, Class und Gender noch keine Schlagworte waren und Webseiten hatten. Sie weist auf Raubbau an der Umwelt, mangelndes Verständnis von Naturzusammenhängen, Missachtung von indigenen Völkern hin – und auf einmal scheint die Welt aufzuwachen, ihr zuzustimmen.
Der Buchladen, der wie eine Oase beschrieben wird, verkauft indigene Literatur und im Buch selbst, werden Bücher empfohlen. Du kannst den Suchtipps folgen, dir eine eigenen Leseliste basteln. Und wenn dir das zu mühsam ist, findest du die Leseliste auch noch einmal im Anhang. Die Pandemie hat Auswirkungen auf den Buchverkauf – bis Bücher als systemrelevant eingestuft werden – das kennen wir auch – und der Verkauf auch im Jahr der Wunder weiter gehen kann.
Bücher – werden in diesem Buch gefeiert. Dass das Lesen, die Literatur Einfluss auf unser Leben nimmt, hebt Erdrich immer wieder hervor. Lesen bildet, nicht nur geistig auch psychologisch. Wir lernen aus den Erfahrungen anderer, mit denen wir – so oder so – immer verbunden bleiben.
Die Sprache
Erdrich hat eine bodenständige Sprache, in diesem Buch fiel mir auf, wie einfach sich ihre Bücher lesen. Es gibt keine stilistischen Spielchen, was gesagt wird, wird möglichst direkt ausgedrückt. Grundsätzlich mag ich das. Doch im Jahr der Wunder war mir der Stil ein wenig zu sehr auf ihre Hauptfigur – Tookie – zugeschnitten, sehr einfach, die Assoziationen sprunghaft und etwas unsortiert.
„Wir sind nicht kolonisiert genug, dass wir die Mentalität der Mehrheitssprache übernommen hätten. Unsere eigenen ursprünglichen Sprachen beherrschen die meisten von uns gar nicht, trotzdem bestimmt ein ererbtes Gefühl für diese Sprachen unser Handeln.“ („Jahr der Wunder“ Position 479)
Das Buch ist von Gesine Schröder sehr gut übersetzt, doch für mich bleiben ein paar Fragen offen, die mir wohl nur das Original beantworten kann. Erdrich spricht (in der dt Übersetzung) von Indianern, von Indigenen, indigenen Geschichte und ich konnte nicht herausfinden, wie sich die Begriffe voneinander absetzen. „Indianer“ – der mittlerweile verpönte Begriff – taucht in der Übersetzung immer wieder auf, doch es finden sich keine Anmerkungen wie der englische Begriff dazu ist. Indians? Begrifflichkeit sind wichtig geworden, hier fehlt mir ein wenig mehr Einblick in die Bedeutung der einzelnen Begriffe, wie und wann sie angewendet werden und auf welchem Hintergrund.
Die Autorin
Louise Erdrichs Großvater mütterlicherseits war Häuptling der Chippewa in North Dakota. Ihr Vater arbeitete im Wahpeton-Reservat und unterrichtete Deutsch und Englisch. Ihre Mutter, eine Ojibwe, betreute als Sozialarbeiterin alkoholgeschädigte Kinder. Sie selbst wuchs als ältestes von sieben Kindern in einem Reservat in North Dakota auf und verarbeitet dieses Erfahrungen in all ihrem Büchern. Was sie beschreibt, sind ihre Erfahrungen, ihre Gefühle und die gehen auf ihre eigenen Herkunft zurück. Das verschafft ihrem Schreiben eine hohe Authentizität.
Für »Der Nachtwächter« wurde sie 2021 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Der Roman thematisiert das Leben von Erdrichs Großvater, der gegen die Enteignung der amerikanischen Ureinwohner:innen protestierte.
Leseerlebnis
Das Buch hat mich nicht sofort gefesselt, ich brauchte ein paar Anläufe. Manchmal ist mir das Leid zu viel, das Erdrich beschreibt, die vielen Anspielungen auf Ungerechtigkeit und Probleme – die ich nicht lösen kann. In Das Jahr der Wunder lag das mehr an der Hauptfigur Tookie, mit der ich mich erst langsam angefreundet habe. Ihre Naivität und emotionale Verschlossenheit, der Pragmatismus und die Angst vor allem Spirituellen – nichts davon konnte ich gut nachempfinden. Aber – eine so exzellente Autorin wie Erdrich kriegt einen dann eben doch. Durch die Nebencharaktere, durch das Setting (der Buchladen), das tiefe Wissen, das einen immer wieder zu Wikipedia und dem Internet führt. Denn dann will man es auch ganz genau wissen. Ich denke, auch darum geht es Erdrich. Etwas zu vermitteln. Nicht, um mitzuleiden, sondern um zu verstehen, was besser laufen konnte, nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt.
Logisch, dass ich eine Leseempfehlung ausspreche, auch wenn mein erstes Leseerlebnis der Rübenkönigin wohl nie wieder von Erdrich übertroffen werden kann.
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