Rezension

„Südstern“ von Tim Staffel

30. September 2023
Rezensionen Red Bug Culture
„Südstern“ von Tim Staffel

„Südstern“ von Tim Staffel musste ich schon deshalb lesen, weil ich geborene Berlinerin bin und „Südstern“ – mich sofort zu meinen Erinnerungen an dem Platz in Berlin bringt. Ja, der Südstern … Wenn man in Berlin groß geworden ist, heißt das noch lange nicht, dass man alle Teile von Berlin kennt. Jeder Stadtteil hat eine eigene Atmosphäre, einen eigenen Vibe. Sogar Kreuzberg war vor der Reform der Postleitzahlen noch 36 oder 61 und das war ein großer Unterschied.

Südstern von Tim StaffelWas ich hier sagen möchte, gleich am Anfang: Dieser Roman ist ein besonderer Genuss für Menschen, die Berlin kennen. Ich musste an den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders denken, der auch so viel mehr Atmosphäre als Handlung hat und neben allem anderen eine Hommage an Berlin ist.

Ein Roman wie ein Song von Rio Reiser. Südstern ist der große Comeback-Roman von Tim Staffel. Mit Vanessa und Deniz hat er ein neues Traumpaar der deutschen Gegenwartsliteratur geschaffen. Er erzählt unsere Zeit, wie sie ist. Messerscharf, dämonisch, sehnsüchtig. (Kanon Verlag)

So wirbt der Kanon Verlag für den Roman. Ganz klar ist Berlin hier die Hauptdarstellerin, das Großstadtgefühl, die Menschen in dieser Stadt.

Vanessa ist Pharmakologin. Sie liefert Substanzen, die für Erfolg und Glück sorgen. Ihre Kunden sind Sportler, Krankenpflegerinnen und Politiker. Deniz ist Streifenpolizist. Er fährt Doppelschicht und pflegt seinen parkinsonkranken Vater. Jeden Tag suchen Vanessa und Deniz verlorene Menschen auf, doch dann treffen sie sich. Ein zarter, starker Großstadtroman, der danach fragt: Wie halten wir dem Druck stand? Wie wollen wir leben, und wie können wir lieben?– (Inhalt-Kanonverlag)

Die Handlung

Ich bin eine ungeduldige Leserin, ich will schnell wissen, worum es geht, um wen es geht. Mir ist der Einstieg in den Roman nicht sehr leicht gefallen. Den Sog, den andere spüren, konnte ich nicht nachempfinden, das Tempo – war mir zu langsam. Ich musste erst einmal umschalten auf eine Geschichte, die dann doch sehr ausführlich, mit vielen Details und liebevoll beobachtenden Szenen erzählt wird.

Dazu kommen viele, viele Personen, die mich am Anfang haben fragen lassen: Um wen geht es eigentlich? Um was geht es eigentlich?

„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel. Alle aus meiner Gemeinde warten darauf, dass etwas passiert. Ich dimme das Licht. Ein Paar sitzt am runden Tisch neben dem Durchgang zum Raucherzimmer. Noch sind sie kein Paar. “ (Erste Sätze von Tims Staffels „Südstern“ Einführung von Vanessa))

Vanessa, der Eingel, am Anfang dachte ich tatsächlich, sie ist nicht real (und wieder die Assoziation zu „Der Himmel über Berlin„). Engel Vanessa schaut viel, was andere machen, in der Kneipe, im Leben. Dieser Frauentyp ist mir immer etwas fremd und ich war froh, als ich Deniz kennengelernt habe, den Polizisten und die zweite ICH-Stimme im Buch. Wobei es wieder – für mich viel zu lange – gedauert hat, bis Deniz endlich bei sich war, von sich erzählt hat. Auch er ist immer in Beobachtung des Alltags anderer Menschen. Ein Polizist, der sich um den kranken Vater kümmert, der etwas anders ist, mehr bei anderen als bei sich.

Charaktere

Beide Hauptfiguren von Staffels Roman sind Menschen, die sich um andere kümmern, sich verantwortlich fühlen. Das allein ist eindrucksvoll, besonders wenn man die Großstadt/Berlin kennt, wo jeder sich um sich selbst kümmern – muss. Die Penner unter der Brücke oder die Betrunkenen vor der Kneipe – am besten sieht man weg oder weicht ihnen aus. Vanessa und Deniz tun das nicht, sie schauen genau hin und lassen uns Leser:innen darin teilhaben, lassen uns auch genau hinsehen. Das ist manchmal ein wenig didaktisch und hat mich aus dem Lesefluss und Genuss gerissen.

So viel realistisches Großstadtleben muss man mögen, zumal es im Roman eher um die Verlorenen, die Alleingelassenen, die Verlierer der Großstadt geht. Egal, ob reich oder arm, eigentlich sind alle Charaktere in Staffels Buch kurz vor ihrem Breakpoint.

Soziales Engagement

Zu recht stand Staffels Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023, weil es sozial(kritische) Romane nicht mehr so richtig gibt und sie eigentlich immer aktuell sein sollten. Dem Kanon Verlag ist hier wirklich zu danken, weil er sich Themen und Autor:innen annimmt, deren Stärke es ist, uns in die verschiedenen Lebenswelten mitzunehmen. Es geht weniger um Unterhaltung als um Erfahrung. Lesen ersetzt das Erleben nicht, aber es schärft das Auge für Situationen und Menschen, macht (hoffentlich) toleranter und offen für fremde Welten.

Schreibstil

Staffels Schreibstil ist nüchtern und an vielen Stellen habe ich einen emphatischeren Blick auf die Welt vermisst. Es wird viel bemerkt und beschrieben, aber nicht immer war mir klar, wie die Protagonisten zu dem Gesehenen und Geschehen emotional stehen. Hier ist viel Spielraum für die Leser:in, ich hätte mir mehr Subjektivität gewünscht, die die ICH-Erzählung anbietet.

„Am Kottbusser Tor wohnen sie unter der Hochbahn, heute haben sie Gäste, die hängen Transparente auf und halten Schilder hoch. Tauben flattern, sehen zu. Am Rande des Kreisels parken vergitterte Mnnschaftswagen der Polizei, jeweils zu sechst stehen die Beamten in voller Montur davor, gucken herum, durch alles hindurch.“ (Kapital 2 – Einführung von Deniz)

Ich kenne das Kottbusser Tor und die Situation dort, ich kann mir alles vorstellen und frage mich, wie es anderen geht, die nicht wissen, dass es eine der sozial schwierigsten Orte in Berlin ist, wie ranzig es dort aussieht, die kalten 70er Jahre Betonbauten nicht kennen, wie ungemütlich es dort ist. Ich liebe Berlin, sogar diese Orte – irgendwie – aber wie geht es Denis? Bis ich verstanden habe, dass er uns dieses Situation beschreibt, musste ich drei Seiten lesen, ich dachte erst, es ging noch um Vanessa.

Anders gesagt: Mir fehlen in diesem Roman Subjektivität und Emotionalität der Hauptfiguren. Vielleicht auch, weil ich Berlin zu gut kenne und an vielen Stellen des Buches für mich nichts Neues erzählt wird. Ich hätte mir gewünscht zu erfahren, wie Deniz zu der Situation am Kotti steht, wie er das einschätzt. Doch er geht weiter, Richtung Glogauer (hier habe ich einmal gewohnt), bestellt Käsekuchen, betrachtet die nächste Situation. Die Sätze sind knapp und klar, etwas, was ich durchaus mag, doch oft ist mir der Schreibstil zu nüchtern gewesen.

Der Autor

Der Kanon-Verlag nennt es den Comeback-Roman von Tim Staffel, der Hörspiele, Theaterstücke und Romane schreibt und auch schon Regie geführt hat. Der letzte Roman ist von 2008. Seinen Kommentar in einem Interview zu diesem Lebensverlauf mag ich sehr gerne:

„Ich habe gemerkt, dass mir das, was das Schreiben mal ausgemacht hat – eine gewisse Dringlichkeit oder Leidenschaft –, abhandengekommen ist. Ich wollte herausfinden, ob ich dann noch etwas mache, wenn ich nicht mehr davon leben muss.“ Er begab sich auf Jobsuche. Nebenher schrieb er den Roman. „Weil ich dachte, ich muss noch etwas raushauen, für mich selber.“ (Frankfurter Rundschau)

Solche Autor:innen sind schon deshalb wertvoll, weil sie nicht für das Überleben schreiben müssen und sich ihre kreative Freiheit bewahren.

Fazit

Nicht für mich, aber mit der dringenden Empfehlung zu prüfen, ob es nicht dein Roman ist. Denn wenn ein Buch dich trifft und berührt, dann wird es lange mit dir leben. Ich wünsche Tim Staffel viele Leser:innen und dem Kanon Verlag weiterhin ein so gutes Händchen bei der Auswahl der Romanstoffe und Autorinnen.

„Südstern“ von Tim Staffel
  • Roman.
  • Kanon Verlag, Berlin 2023
  • ISBN 978-3-98568-094-8
  • 288 Seiten
  • Hardcover 25 Euro.

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