Vater und Sohn
Luther wurde 1505 aus dem Elternhaus (was zu dieser Zeit wohl vielmehr ein Vaterhaus war) geworfen und stürzte sich beherzt in eine existenzielle Krise mit der Frage nach einem gerechten Gott/Vater.
Seine ganzes Leben scheint geprägt zu sein, von dem Ungehorsam vor dem Vater und dem Gehorsam vor Gott. Und zwischen diesen beiden väterlichen Polen/Idolen vermittelt nur einer: Jesus. Ein menschgewordener Sohn Gottes. Einer, der gleichzeitig Gott ist und von Gott abstammt. Einer, der das Prinzip und die Gestalt Gottes vermenschlicht und begreifbar macht. Einer der für die Sünden der Menschen streben kann, weil er…nun ja, sterben kann. Ein wandelndes Bild, eine fleischliche Verdichtung der Nachricht Gottes an die Menschen, die Frucht eines unsichtbaren Baumes.
Gott als Vater
Als solches Bild, als ein solche Erscheinung ist Christus vielmehr eine Sichtbarmachung und in gewisser Hinsicht auch eine Erinnerung an die Beziehung des Menschen zu Gott. Jemand der von Gott herabsteigt und sich einer menschlichen Hülle annimmt, macht doch stark deutlich, wie beschränkt der Handlungsspielraum ist, den man als Mensch auf der Erde hat. An Christus sieht man die eigene Sterblichkeit verdeutlicht.
Gott als Vaterfigur ist einziger Auslöser für die Existenz Christi, ebenso, wie er der Auslöser für die Existenz des Menschen ist. Diesem Vater ist Hingabe, Verpflichtung und Dankbarkeit zu zollen. Der Sohn eines solchen Vaters ist, vom Prinzip her nur die Verkörperung einer Idee des Vaters. Ist ein Diener und Bote.
Doch ein Sohn zu sein, birgt weit mehr Möglichkeiten.
Als der Blitz vor Luther einschlug, muss ihm, im Bruchteil einer Sekunde, das Licht aufgegangen sein, dass der Vater nicht immer Recht haben muss. Nicht immer Recht haben kann. Dass ein Sohn, mehr als ein Bote ist.
Wie viel Spielraum hatte Jesus?
Eine Szene zwischen Gott und Jesus fand ich immer bemerkenswert: das Gespräch im Garten Gethsemane. Wenn Jesus sich ins feuchte Gras wirft und anfängt mit seinem Vater zu diskutieren. Gibt es keinen Weg daran vorbei? Muss ich das alles jetzt zu Ende bringen? Bleiben mir gar keine Schmerzen erspart? Gibt es einen anderen Weg?
Auf einmal wird einem klar, dass der Mensch Jesus, vielleicht gar nicht so scharf darauf war, ans Kreuz genagelt zu werden. Dass der Sohn Jesus, auch nicht immer einer Meinung mit dem Gottesvater war. Irgendetwas an der Auseinandersetzung mit Christus scheint für Menschen bedeutsam zu sein, gerade weil er mehr war, als eine wandelnde Idee. Weil er ein Mensch aus Fleisch und Blut war, weil er leidenschaftlich und…ungehorsam war?
Die Bibel ist voll von Söhnen und Vätern. Was unterscheidet Jesus von Adam, dem ersten Sohn, dem großen Bruder? Muss der Jüngere ausbaden, was der Ältere ausgefressen hat?
Ist das jetzt so gerecht, Gott?
Letztendlich tut Jesus wie im geheißen und der frankensteinische Moment im Garten bleibt zurück als Erinnerung an sein Leiden.
Vor diesem Hintergrund scheint es ja schon fast unmöglich, über den Vater hinauszuwachsen, sich dem Vater zu widersetzen oder ihm in irgendeiner Form zu widerstreben. Dennoch macht Luthers Perspektive auf sein eigenes Verhältnis zu Vater und Gott auch deutlich, ein Sohn zu sein, entbindet dich nicht aus deiner Eigenverantwortlichkeit.
Wie deutlich war Jesus’ Lebensweg vorgezeichnet? Gab es Momente in denen Gott gesagt hat, Okay, Sohn, das hatte ich mir zwar anders vorgestellt, ist aber im Sinne der Mission. In welchen Momenten schien die Persönlichkeit des Mensch Jesus hervor, wann hat er sich erlaubt zu improvisieren?
Im Namen des Vaters
Wenn Luther sich mit Gott beschäftigt, geht es dann nicht im Grunde immer darum, im Sinne Gottes zu handeln? Sich auf das Zwiegespräch mit dem Vater, der dich in die Welt gesandt hat, einzulassen? Zu sagen, ich muss meinen eigenen Weg finden, dir zu gehorchen.
Blinder Gehorsam würde auch dem Vater nicht gerecht. Und dem Prinzip des Sohnes widersprechen. Ein Sohn erbt die Erkenntnisse des Vaters, ist untrennbar verbunden mit seinem Schöpfer und dennoch ein Nachkomme. Jemand der weiterführt, was der Vater begonnen hat, oder dem Gespräch eine neue Richtung gibt.
Welche andere Wahl hat Luther unter diesem Gesichtspunkt auf die Liebe Gottes zu setzen? Wenn der Vater mich nicht liebt, dann spielt er ein böses Spiel, bei dem beide nur verlieren können. Warum jemanden in die Welt setzten, um ihn dann für unbrauchbar zu erklären.
Neue Perspektiven
In gewisser Hinsicht fragt man sich: inwieweit Jesus die Perspektive Gottes erweitert hat. Denn mal ganz praktisch gesprochen, müsste nicht jeder neue Mensch und jedes neue Augenpaar eine neue Sichtweise an Gott herantragen? In Gott hinein integrieren oder aus Gott herauslösen?
Kann man nicht davon ausgehen, dass Gott sich etwas dabei gedacht hat Menschen zu erschaffen? Diesen Sinn sucht ja auch Luther, wenn er fragt, wo finde ich einen gerechten Gott? Wo finde ich, die Rechtfertigung meiner eigenen Existenz? Und wenn ich sie gefunden habe, wie gehe ich dann mit ihr um?
Ich finde es bemerkenswert, dass Luther sich der Tatsache gestellt hat, dass man es Gott nicht gerecht machen kann. Das nur Gott es dir gerecht machen kann.
Und somit die Verantwortung, die der Einzelne für sein Leben trägt, im Sinne Gottes, vollkommen angenommen hat.
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